MM
Sprache Themen Info Kontakt
 Sie befinden sich: Sprache > Themen > Kirchenasyl > Geschichte
Matthias Morgenstern:
Die historischen Wurzeln:
Religiöses Asyl in Altertum und Mittelalter
Die Idee des religiösen Asyls ist uralt. Der Gedanke, daß Orte, die der Religionsausübung dienen, gleichzeitig auch Stätten des Schutzes sind, läßt sich bis in einfache Kulturen der Frühgeschichte oder die frühen Hochkulturen zurückverfolgen. Hinsichtlich der Traditionslinien heutigen Kirchenasyls in Europa erscheint vor allem das religiöse Asyl im antiken Griechenland, im Alten Israel und bei den Germanen relevant.

Die Wiege des Asylbegriffs stand im antiken Griechenland. Mit dem Begriff "asylon" wurde das Verbot ausgedrückt, Personen wie Sachen, insbesondere vom Tempel, wegzuführen. Alles was sich am Tempel befand - auch ein Mensch -, galt als göttlicher Besitz. Daher genoß jeder Verfolgte, der sich am heiligen Ort aufhielt, Schutz, unabhängig davon, aus welchem Grund er auf der Flucht war: Mörder, Räuber, Totschlagstäter, Sklaven und Schuldner hielten sich gleichermaßen in den Tempeln auf.

Sehr plastisch spiegelt sich die Grundidee der engen Bindung zwischen Kontakt zum heiligen Ort und Schutz in folgender Legende wider. Die Anhänger des Kylon hatten sich nach einem mißglückten Aufstandsversuch in das Heiligtum der Athena geflüchtet. Als sie vor Gericht vorgeladen wurden, verließen sie den Tempel erst, nachdem sie ein Seil um das Bild der Göttin gebunden hatten, an dem sie sich auf dem Weg zu ihrer eigenen Sicherheit festhielten. Doch das Seil riß: Da wurden sie ergriffen und getötet.

Beim Tempelasyl im Alten Israel stand der Schutz vor Blutrache im Mittelpunkt. Diese nahm eine dominante Stellung in der damaligen Rechtsordnung ein. Eine Sippe hatte die Pflicht, erlittenes Unrecht eines der Ihrigen an den Mitgliedern einer anderen Sippe zu vergelten. Insbesondere im Falle eines unbeabsichtigten Totschlags zog dies eine sinnlose wie blutige Spur von Gewalt und Gegengewalt nach sich.

Deshalb sieht das Bundesbuch, die älteste Rechtssammlung des Alten Testaments, einen Totschlagstäter dann als asylwürdig an, wenn er seinem Opfer "nicht nachgestellt" hat (Altes Testament, 2. Mose 21.13). Es galt demnach als Asylgrund, wenn jemand einen anderen "aus Versehen stößt ohne Feindschaft oder wirft etwas auf ihn ohne Hinterlist", so daß er stirbt (Altes Testament, 4. Mose 35.22).

Mit der Konzentration des Kultes in der Frühphase des israelitischen Königtums, also etwa um 1000 vor Christus, wurden besondere Asylorte eingerichtet, damit die Schutzstätten rein von der Entfernung her noch erreichbar waren. Als Asylstädte im Westjordanland werden Hebron, Sichem und Cedes, für das Ostjordanland Bojor, Ramoth Galaad und Goulan genannt.

Am schwächsten war die Asylvorstellung in den vorchristlichen Germanenreichen ausgeprägt. Aufgrund der äußerst dünnen Quellenlage ist es in der Forschung umstritten, ob es dort Asyl im eigentlichen Sinne überhaupt gab. Allerdings galt an den sakralen Stätten der Germanen, vom Thingplatz über die heiligen Wälder bis hin zu den Götterbildern, zumindest ein Gewaltverbot.

Markstein für die Institutionalisierung mittelalterlichen Kirchenasyls war das Konzil von Orange im Südosten Frankreichs im Jahre 441. "Wer sich in eine Kirche geflüchtet hat, soll nicht ausgeliefert, sondern aus Respekt gegen den heiligen Ort verteidigt werden", lautet der Kernsatz des Konzilsbeschlusses.

Neu dabei ist der Gedanke der aktiven Beistandspflicht der Kleriker, die "intercessio": Die Geistlichen waren nun gehalten, mit der weltlichen Gerichtsbarkeit über eine Strafmilderung für den Kirchenasylanten, insbesondere über den Verzicht auf Todes- oder Körperstrafen zu verhandeln. Mittelalterliches Kirchenasyl diente also maßgeblich zur Abwehr von Härten der staatlichen Strafjustiz.

Der Bruch des Kirchenasyls war mit Exkommunikation bedroht. Deshalb wurde sakraler Schutz von den weltlichen Herrschern weitgehend respektiert. Mörder, Diebe, Ehebrecher und Unfreie waren die wesentlichen Gruppen Asylberechtigter im Mittelalter. Neben den Kirchen wurden auch Klöster zu Schutzorten.

Die Reformatoren Martin Luther und Huldrych Zwingli setzten sich zwar noch theoretisch mit dem Kirchenasyl auseinander. In der Praxis jedoch war der Schutz im Gotteshaus in den neuen Konfessionen nur mehr peripher von Bedeutung.

Sakrale Schutzmechanismen verloren in der Neuzeit zunehmend an Relevanz. Das Aufkommen der Nationalstaaten, die Aufklärung, die Begründung des modernen Rechtsstaates sowie die Säkularisierung waren wesentliche Gründe dafür, daß Kirchenasyl im modernen souveränen Staat letztlich als Fremdkörper betrachtet wurde.

Zwischen dem 16. und 19. Jahrhundert wurde in fast allen europäischen Ländern dem Kirchenasyl die staatliche Anerkennung entzogen. Im 20. Jahrhundert existierte es bis Anfang der achtziger Jahre im wesentlichen nur noch als verdeckter Schutz für Oppositionelle und Verfolgte in Diktaturen.

In der aktuellen Diskussion ist es umstritten, ob das Kirchenasyl in seiner heutigen Form tatsächlich auf historische Wurzeln zurückzuführen ist, oder nicht. Die wesentliche Differenz zwischen sakralem Schutz damals und heute besteht zweifelsohne darin, daß im souveränen Rechtsstaat der Gegenwart grundsätzlich andere Rahmenbedingungen existieren als in gesellschaftlichen Ordnungen früherer Epochen.

In einem Punkt ist es allerdings keine Frage, daß die lange Historie sakralen Asyls auf die heutige Situation ausstrahlt: Mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit würde es das moderne Kirchenasyl ohne seine Vorbilder in der Geschichte gar nicht geben.
Alle Informationen zum Kirchenasyl auf dieser Homepage
Matthias Morgenstern: Kirchenasyl in der Bundesrepublik Deutschland  
Historische Entwicklung - Aktuelle Situation - Internationaler Vergleich.  
Reihe "Politik und Religion", Westdeutscher Verlag (Verlag für Sozialwissenschaften)  
Wiesbaden 2003. - ISBN 978-3-531-14067-4  
MM
Zurück zur Auswahl Seitenanfang
Besucher: Zähler © Matthias Morgenstern
Frühere Adresse: m.morgen.bei.t-online.de/ka_histo.html