MM
Sprache Themen Info Kontakt
 Sie befinden sich: Sprache > Themen > Kirchenasyl > Deutschland
Matthias Morgenstern:
Die Renaissance von Kirchenasyl in Deutschland
1983 gewährte die Heilig-Kreuz-Gemeinde in Berlin einer Gruppe von Palästinensern, denen die Abschiebung drohte, Asyl. Es gilt als der erste Fall von Kirchenasyl in Deutschland. Die Ausweisung der Palästinenser wurde durch das Eingreifen der evangelischen Christen verhindert.

In anderen vergleichbaren Fällen dagegen drang die Polizei - wenn auch nur äußerst selten - in sakrale Gebäude ein und schob Flüchtlinge zwangsweise ab. Derartige Ereignisse konnten jedoch nicht verhindern, daß sich in den 1980er Jahren die ersten Ansätze einer Kirchenasylbewegung in der Bundesrepublik entwickelten.

Die tiefere Ursache für die Wiederbelebung des Kirchenasyls war die zunehmend restriktive Gesetzgebung im Bereich des Asyl- und Ausländerrechts. Anfang der 1990er Jahre lebten in Deutschland bereits in 50 Kirchengemeinden und Pfarreien Flüchtlinge auf kirchlichem Gelände.

Ins Blickfeld der breiten Öffentlichkeit geriet das Kirchenasyl mit der Grundgesetzänderung des Asylrechts zum 1. Juli 1993. Mit den Stimmen der damals regierenden CDU/CSU, FDP und der oppositionellen SPD wurde das Asylrecht unter eine Reihe von Vorbehalten und Einschränkungen gestellt.

In der Folgezeit nahmen die Fälle von Kirchenasyl spürbar zu: Im Jahr 1995 lebten bereits insgesamt 230 Flüchtlinge in katholischen, evangelischen und freikirchlichen Gemeinden - eine Zahl, die um die Jahrtausendwende auf knapp vierhundert Kirchenasylanten anstieg. Die größte Gruppe unter ihnen sind bis heute Kurden aus der Türkei.

Parallel zu dieser Entwicklung bildeten sich Strukturen einer organisierten Kirchenasylbewegung heraus. 1994 erfolgte in Mülheim an der Ruhr die Gründung der überregionalen ökumenischen Bundesarbeitsgemeinschaft "Asyl in der Kirche", die seitdem auf Bundesebene die Interessen der regionalen wie lokalen Kirchenasylinitiativen vertritt.

Angesichts seiner wachsenden zahlenmäßigen und organisatorischen Stärke setzte in der Öffentlichkeit eine kontroverse Debatte über die Legitimität modernen Sakralschutzes ein. Im Mai 1994 warnte der damalige Bundesinnenminister Manfred Kanther (CDU) die Kirchen vor weiteren "Rechtsbrüchen". Er sprach ihnen ausdrücklich das Recht ab, Asylbewerber der Abschiebung durch die Justiz zu entziehen: "Keine Organisation ist berechtigt, sich selbst Sonderrechte zu schaffen - auch die Kirche nicht."

Der damalige Koalitionspartner FDP sah zwar einen Konflikt zwischen dem Kirchenasyl und dem Rechtsstaatsprinzip, äußerte sich aber meist wesentlich differenzierter. Die Äußerungen aus SPD-Kreisen sind bis heute distanziert bis vorsichtig positiv. Aus den Reihen der Grünen existieren durchweg positive Stimmen zum Kirchenasyl, da sie darin eine Chance sehen, im Ausnahmefall Defiziten des Asylrechts zu begegnen.

1995 sorgte ein Vorschlag aus dem Bundesland Bayern, Kirchenasyl zu legalisieren, bundesweit für Aufsehen. Der dortige Innenminister hatte angeregt, ein sogenanntes "Kirchenkontingent" für Flüchtlinge einzurichten. Eine bestimmte Anzahl von Ausländern, so der Vorschlag, sollte auch außerhalb des staatlichen Flüchtlingsrechts in Deutschland bleiben können, wenn die Kirchen dafür die Kosten übernähmen. Die Idee konnte sich nicht durchsetzen, da sie nicht nur in den Reihen der Politik, sondern auch bei den Kirchen und Kirchenasylinitiativen letztlich auf wenig Gegenliebe stieß.

Kirchlicherseits ging die Leitung der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) 1994 in ihrer Erklärung "Beistand ist nötig, nicht Widerstand", auf eine gewisse Distanz zum Kirchenasyl und versuchte vor allem die Sorge aus den Reihen der Politik, Kirchenasyl sei ein Angriff auf den souveränen Rechtsstaat, zu zerstreuen. Das EKD-Papier spricht zwar von einer "christlichen Beistandspflicht" gegenüber Asylbewerbern in Not, wer dabei aber gegen gesetzlichte Verbote verstoße, "muß das allein verantworten".

Spätere kirchliche Verlautbarungen, insbesondere die ökumenische Erklärung von 1997 und das Positionspapier einer Fachkommission der katholischen Bischofskonferenz aus dem Jahr 1998, stärkten dagegen eher den Gemeinden, die Kirchenasyl gewähren, den Rücken.

Auch in der Wissenschaft wurde das Phänomen Kirchenasyl etwa ab Mitte der neunziger Jahre äußerst kontrovers diskutiert. Streitfrage war vor allem die Vereinbarkeit von Sakralschutz mit den Prinzipien von Rechtsstaat und Demokratie.

Das Meinungsspektrum ist breit gefächert, wie das Beispiel Politikwissenschaft zeigt: Kirchenasyl als Ziviler Ungehorsam (Theodor Ebert, Berlin), als Verwirklichung von Grundrechten in der Demokratie (Hans-Otto Mühleisen, Augsburg) oder als vorrechtsstaatliche, antidemokratische Erscheinung (Heinrich Oberreuter, Passau). Ebenso löste die Aufnahme von Flüchtlingen in Sakralgebäuden lebhafte und polarisierende verfassungsrechtliche und kirchenrechtliche Diskussionen aus.

Nach dem Wechsel von der konservativ-liberalen zur sozialdemokratisch-grünen Bundesregierung 1998 hat sich die Situation in Deutschland nicht grundlegend verändert. Die Anzahl der Kirchenflüchtlinge bewegte sich mit rund 200 bis 400 Personen auf dem Niveau vorangegangener Jahre.

Allerdings war in der Kontroverse um das Kirchenasyl ein gewisser Klimawechsel spürbar geworden. Bundesinnenminister Otto Schily (SPD) betrachtete zwar wie sein konservativer Vorgänger das Kirchenasyl als rechtsstaatlich sehr fragwürdig, erkannte jedoch an, daß das Engagement seiner Initiatoren auf ideellen Beweggründen beruht.
Alle Informationen zum Kirchenasyl auf dieser Homepage
Matthias Morgenstern: Kirchenasyl in der Bundesrepublik Deutschland  
Historische Entwicklung - Aktuelle Situation - Internationaler Vergleich.  
Reihe "Politik und Religion", Westdeutscher Verlag (Verlag für Sozialwissenschaften)  
Wiesbaden 2003. - ISBN 978-3-531-14067-4  
MM
Zurück zur Auswahl Seitenanfang
Besucher: Zähler © Matthias Morgenstern
Frühere Adresse: m.morgen.bei.t-online.de/ka_deutl.html